Dante - Die Göttliche Komödie

Die Hölle

Erster Gesang

Es war in unseres Lebensweges Mitte,
Als ich mich fand in einem dunklen Walde;
Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege,

Witte: Dante war 1265, als die Sonne im Zeichen der Zwillinge stand, also zwischen Mitte Mai und Mitte Juni, geboren. Als die Zeit seiner poetischen Reife nimmt er die Frühlings-Tag und Nachtgleiche des Jahres 1300 an.

Pischel: Auf übertragener Ebene ist Dante aus dem "Klein-Klein" des Alltags aufgewacht und reflektiert, dass sein Leben nicht so verlaufen ist, wie er sich das vorstellt. Salopp gesagt hat er so etwas wie eine midlife crisis (da passt schon das Wort: "in der Mitte des Lebens"). Der dunkle Wald wird als Wald der Sünde gedeutet. Wie kann er aus diesem Wald wieder herausfinden? Im übertragenen Sinn: dieser dunkle Wald ist in ihm, in der Mitte seiner Person, bestimmt seine Gefühle und sein Handeln. Es heißt, dieser Wald verhindert, dass der Mensch Hoffnung (insbesondere im christlichen Sinne) wahrnehmen kann. Wie kann er diese Dickicht entfernen? Welches Leben soll er künftig leben? Was ist für ihn der Sinn des Lebens? Wer will er sein, was ist seine Identität, wenn er dieses Dickicht aus Sünde aus seinem Inneren entfernt hat?

Wohl fällt mir schwer, zu schildern diesen Wald,
Der wildverwachsen war und voller Grauen
Und in Erinn'rung schon die Furcht erneut:

So schwer, dass Tod zu leiden wenig schlimmer.
Doch um das Heil, das ich dort fand, zu künden,
Will, was ich sonst gesehen, ich berichten. -

Wie ich bin hingelangt, kann ich nicht sagen,
So schlafbenommen war ich um die Zeit
Als ich zuerst den wahren Weg verlassen.

Gustave Doré: "Dante perdu dans la forêt obscure entre en enfer.", 1861, gemeinfrei

Doch als ich eines Hügels Fuß erreichte,
An welchem jenes Tal zu Ende ging,
Das mir das Herz mit solcher Furcht befangen,

Blickt' ich empor und sah des Hügels Schultern
Bekleidet schon mit des Planeten Strahlen,
Der uns den rechten Weg zeigt allerwege.

"des Planeten Strahlen" gemeint ist die Sonne

... und im übertragenen Sinne: Gott

Beruhigt wurde da die Furcht ein wenig,
Die in des Herzens See mir angedauert
Die Nacht durch, die so angstvolt ich verbrachte.

Dante hat einen Ausweg gefunden. Ein höheres Ziel. Er hat Hoffnung, endlich!

Wie einer, der mit ganz erschöpftem Atem,
Dem Meer entronnen, das Gestad' erreicht,
Auf die verräterische Flut zurückblickt,

So wandte sich mein Geist, noch immer fliehend,
Zurück, um zu beschaun die dunkle Talschlucht,
Die keinen, der drin weilt, lebendig ließ. -

Im Wald der Sünde erstirbt alles geistige Leben.

Als etwas ich den müden Leib gerastet,
Setzt' ich den Weg am wüsten Abhang fort,
So dass der ruh'nde stets der untre Fuß war.

Er stieg aufwärts.

Doch, siehe, fast bei dem Beginn des Anstiegs,
Ein Panthertier, leichtfüßig und behände,
Das überdeckt war mit geflecktem Haare.

Die im Walde hausenden Raubtiere treten ihm nun entgegen, und der Panther ist Sinnbild der Augen- und Fleischeslust.

Vor meinen Augen wich das Untier nimmer
Und störte mich so sehr in meinem Wege,
Dass mehrmals schon zur Umkehr ich mich wandte.

Es war die Zeit der ersten Morgenfrühe
Die Sonne stieg empor mit jenen Sternen,
Die sie begleiteten, als Gottes Liebe

Alter Überlieferung zufolge hätte die Sonne bei Erschaffung der Welt ihre Laufbahn im Zeichen des Widders begonnen, es wäre also am Frühlings-Äquinoktium gewesen.

Zuerst bewegte diese schönen Dinge,
Sodass kein Unheil mich befürchten ließ
Von jenem Tier mit buntgeflecktem Felle

Die Stunde, wie die schöne Jahreszeit.
Doch war darum der Schrecken nicht geringer,
Der mich ergriff beim Anblick eines Löwen

Von Hochmut (n.a. der Ehrgeiz), dem Laster des Mannesalters, der hier im Löwen verkörpert wird, wusste Dante selbst sich nicht frei.

(Erhabnen Hauptes und mit grimmem Hunger
Kam dieser dräuend auf mich zugeschritten,
So dass die Luft vor ihm zu fürchten schien)

Und einer Wölfin, die von jeder Gier
Besessen schien in ihrer Magerkeit
Und über viele schon Verderben brachte.

"Alte Wölfin" nennt der Dichter den Geiz.

bei den drei Raubtieren bezieht sich Dante auf das alte Testament. In Jeremias 5,6: Darum schlägt sie ein Löwe aus dem Wald, ein Wolf der Steppen überwältigt sie, ein Leopard lauert an ihren Städten; jeder, der aus ihnen hinausgeht, wird zerrissen. Denn ihre Vergehen sind viele, zahlreich ihre Treulosigkeiten.

Sie gab mir durch die Furcht, die von ihr ausging,
so großes Ungemach, dass ich die Höhe
Des Berges zu erreichen nicht mehr hoffte.

Und wie der Mann, der gern Reichtümer sammelt,
Wenn eine Zeit kommt, die Verlust ihm bringet,
In seinem Herzen sich betrübt und wehklagt,

So ward mir ob des friedelosen Tieres,
Das, wie es auf mich zukam, ganz allmählich
Mich dahin drängte, wo die Sonne schweiget.

Sein Ziel kann er nicht erreichen. Seine Hoffnung ist zerstört! Er ist wieder im dunklen Wald. Verzweiflung. Was soll er tun?

Und während ich zur Tiefe niederstürzte,
Erschien mir plötzlich eines Manns Gestalt,
Der heiser mir, vor langem Schweigen, deuchte.

Als in der großen Wüst' ich den erblickte,
Rief flehend ich ihn an: Erbarm dich meiner,
Sei'st du ein Lebender, seist du ein Schatten. -

Kein Lebender! Wohl war ich einst ein solcher,
Lombarden waren meine Eltern beide
Und ihre Vaterstadt war Mantova.

Geboren unter Julius, wenn auch spät,
Lebt' ich in Rom zur Zeit des Augusts des Guten,
Als man die falschen Lügengötter ehrte.

Am 12. Juli des Jahres 100 vor Christo ward Julius Cäsar und 30 Jahre später, am 15. Oktober 70, Virgil geboren.

Ein Dichter war ich, sang von des Anchises
Gerechtem Sohne, der von Troja kam,
Als Ilion war verbrannt, die stolze Feste.

Doch du, weshalb zu soviel Plage kehrst du?
Weshalb ersteigst du nicht den schönen Berg,
Der Anfang ist und Ursach' aller Freude:' -

So bist du der Virgil und jene Quelle,
Der so gewalt'ger Redestrom entfließet?
Entgegnet ich mit schamgefärbter Stirne.

Hierzu ein Auszug aus der Wikipedia:

Vergil selbst ist als Heide der vorchristlichen Zeit in Ermangelung des Sakraments der Taufe von der Erlösung ausgeschlossen. Aber aufgrund seines tugendhaften Lebens und seiner Rolle als Dichter des Weltkaisertums und ahnungsvoller Prophet der Ankunft Christi (in seiner vierten Ekloge) bleiben ihm die Höllenstrafen erspart, und er darf die Zeit bis zum Jüngsten Gericht in dem der eigentlichen Hölle vorgelagerten Limbus verbringen, gemeinsam mit anderen Gerechten der Heidenheit und des Islams. Nur in seiner Eigenschaft als Führer im göttlichen Auftrag darf er den Limbus zeitweise verlassen und den Jenseitsbesucher durch Hölle und Läuterungsbereich begleiten. Als Repräsentant der natürlichen Vernunft, die zumindest zu Lebzeiten Vergils noch nicht durch die biblische Offenbarung erleuchtet war, erläutert er Dante die Einteilungsprinzipien der Straf- und Bußbezirke in Hölle und Purgatorio. Aber nicht nur als philosophisch-ethischer Lehrer, der seinen Schützling unterweist und bei mancher Gelegenheit auch ermahnt, sondern auch als literarisches Vorbild, nämlich als Dichter der Unterweltreise des Aeneas im sechsten Buch der Aeneis, schreitet er Dante voran.
Die Aeneis erzählt einen der Gründungsmythen des Römischen Reiches. Damit ist Virgil eine der wichtigsten Autoren für die Italiener des Mittelalters.

O Licht und Ehre du der andren Dichter,
Mein Eifer, meine Liebe für dein Buch,
Die ich bewährt, sei'n mir bei dir Empfehlung.

Du bist mein Meister, du mein hohes Vorbild,
Und nur von dir hab' ich die schöne Schreibart
Entnommen, die zur Ehre mir gereichte.

William Blake: illustration to Dante The Divine Comedy, Inferno, Canto I, 1-90, gemeinfrei

Sieh jenes Tier, das mich zur Umkehr trieb.
Errette mich vor ihm, gepriesner Weiser,
Denn Puls' und Adern macht es mir erbeben. -

Willst du entgehen diesem armen Orte,
Erwidert' er als er mich weinen sah
So musst zu andrer Reise du dich wenden

Denn jenes Tier, das deiner Klage Anlass,
Gestattet niemand, diesen Weg zu ziehen.
Es hindert jeden, bis es ihn getötet.

So bösgeartet ist es, so verworfen,
Dass seine schnöde Gier es nimmer sättigt
Und nach dem Fraß mehr Hunger als zuvor hat.

Viel Tiere sind, mit denen es sich gattet,
Und mehr noch werden sein, bis dass der Rüde
Erscheinen wird, der unter Qual es tötet.

Cangrande della Scala.

Nicht Land, nicht Silberblech sind seine Speise,
Wohl aber Weisheit, Christenlieb' und Tugend.
Daheim ist zwischen Feltro er und Feltro.

Italien wird er retten, das gebeugte,
Für das Camilla einst, die Jungfrau, starb,
Euryalus, Turnus, Nisus sich verblutet.

Von Stadt zu Stadt wird er die Wölfin jagen,
Bis er zurückgetrieben sie zur Hölle,
Von wo der erste Neid sie losgelassen.

Wesbalb zu deinem Heil ich denk' und ordne,
Dass du mir folgst; ich will dein Führer sein.
Geleiten werd' ich dich durch ew'ge Räume,

Virgil zu Dante: ich nehme Dich mit auf eine Reise...

Wo der Verzweiflung Schrei du wirst vernehmen
Von jenen alten schmerzgebrochnen Geistern,
Die alle nach dem zweiten Tod begehren.

... in die Hölle ...

Dann wirst du jene sehn, die in den Flammen
Zufrieden sind, weil sie, wie spät auch immer,
Zu den Erwählten zu gelangen hofften.

... zum Läuterungsberg (auch Fegefeuer oder Purgatio genannt) ...

Willst auch zu diesen du empor dann steigen,
Wird eine Seele, würdiger als ich bin,
Dahin dich führen, wenn ich von dir scheide.

... in den Himmel (wobei Virgil selbst dort nicht hin darf)

Denn, der dort oben herrscht, des Weltalls Kaiser,
Will, weil ich unbefolgt ließ sein Gesetz,
Nicht, dass durch mich in seine Stadt man komme.

An den verheissenden Erlöser zu glauben, war schon vor Christo möglich.

Im Weltenall gebeut, doch dort regiert er,
Dort ist die Stadt und dort sein hoher Thron.
Gesegnet ist, wen dort er auserkoren. -

Und ich zu ihm: O Dichter, ich beschwöre
Bei jenem Gotte dich, den du nicht kanntest,
Damit ich dies und größ'res Unheil fliehe,

Dass du mich dorthin führest, wo du sagtest,
So dass des heil'gen Petrus Tür ich sehe
Und jene, die du schilderst als so traurig. -
Dann ging er, und ich folgte seinen Schritten.


Bildnachweis:

  1. DSCF2316 Dante perdu von Gustave Doré - Selbst fotografiert Gastair. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons.
  2. Blake Dante Inferno I von William Blake - Unbekannt. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons.


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